13. August, 4:30 Uhr:
Berlin-Prenzlauer Berg. 90 Minuten noch bis zum Start des Mauerweglaufs. 100 Meilen dort entlang, wo exakt vor 55 Jahren eine Mauer gebaut wurde. Wo ebendiese Mauer in den gut 28 Jahren ihrer Existenz mindestens 138 Menschenleben forderte. Eine sportliche Herausforderung, keine Frage. Aber eine, bei der es einem nicht nur ob der Distanz kalt über den Rücken läuft. Sondern auch ob der Schicksale, die mit dieser Mauer verbunden sind. Ein Lauf der Erinnerung, ein Lauf für die Freiheit. Ein Lauf, der Beteiligten und Beobachtern bewusstmacht, wieviel Leid solche Mauern verursachen, damals wie heute.
13. August, 5:59:50 Uhr:
Einen Startschuss kann, nein, darf es bei diesem Lauf nicht geben. Also zählen die etwa 320 Einzelläuferinnen und -läufer die letzten 10 Sekunden vor dem Start gemeinsam mit dem Stadionsprecher und den Ehrengästen Horst Milde und Dr. Axel Klausmeier herunter. Und los geht es. 100 Meilen liegen jetzt vor den Sportlern. Metrisch gesehen, 161 Kilometer. Dank einer Baustelle zeigt die aktuellste Version der GPSies Karte allerdings knapp 162 an. Klagen auf dem allerletzten Kilometer also bitte ans Straßenbauamt richten ☺.
13. August, 06:02 Uhr:
Raus aus dem Stadion, den weißen Pfeilen mit den drei Punkten auf den Mauerweg wird gefolgt. Diesmal geht es im Uhrzeigersinn um das ehemalige Westberlin. Markante Punkte gleich zu Beginn, die Bernauer Straße und die Gedenkstätte Berliner Mauer zum Beispiel. Oder die Gedenkstelen für Günter Litfin und Peter Fechter, denen der Mauerweglauf 2013 bzw. 2014 gewidmet war. Nicht zu vergessen natürlich das gigantische Mauerpanorama von Yadegar Asisi am Checkpoint Charlie, das extra für die Teilnehmer zu früher Morgenstunde geöffnet hat. 320mal Gänsehaut beim Durchlaufen.
13. August, 06:30 Uhr:
Premiere: Erstmals führt die Strecke des Mauerweglaufs durchs Brandenburger Tor. Kurz davor treffen die Teilnehmer auf eine Mauer aus Holzziegeln, symbolisch trägt jeder einen Stein ab. „Mauern müssen weg“, lautet die Botschaft des Mauerweglaufs. Und die Botschafter kommen diesmal – das ist neuer Rekord – aus 33 verschiedenen Nationen.
13. August, 07:00 Uhr:
Im Stadion starten die Staffeln, die Einzelläufer sind schon fast an der East Side Gallery. Die erste Euphorie ist vorbei, jetzt pendelt sich jeder auf „sein“ Lauftempo ein. An der Spitze hat sich das Feld sortiert. Ein polnischer Teilnehmer, zwei Italiener, ein Deutscher und ein Österreicher sind vorne. Bei den Frauen liegt eine Russin in Führung, eine Britin und eine Australierin sind auf den Plätzen.
13. August, 10:30 Uhr:
Das Volunteers-Team am zehnten Verpflegungspunkt ist bereit. Aus sportlicher Sicht warten in Teltow Getränke, läufergerechte Snacks, eine Zeitnahmestation, die Wechselbeutel der Teilnehmer und so mancher Staffelpartner. Aber es gibt auch hier wieder einen Moment des Nachdenkens. Karl-Heinz Kube kam nicht weit von hier bei einem Fluchtversuch ums Leben. Ihm und für das Gedenken an sein Schicksal ist der diesjährige Lauf gewidmet, eine kleine Ausstellung in der Sporthalle erzählt seine Geschichte. Karl-Heinz Kube wurde nur 17 Jahre alt. So jung ist keiner der Einzelläufer.
13. August, 12:00 Uhr:
Prominenz aus Film und Fernsehen wird auf der Strecke gesichtet: Spiderman (Takashi Okada) und der Musiker Joey Kelly. Ein Geburtstagskind gibt es auch. Gefeiert wird der „Fünfziger“ natürlich standesgemäß, mit dem 50. Marathon und Ultralauf, der hier und jetzt auf dem Mauerweg in Arbeit ist.
13. August, 13:00 Uhr:
Verpflegungspunkt 15 in Sacrow richtet sich auf das Eintreffen der Läufer ein. Die 10plus-Staffeln LGM Fast Forward und Team Laktat3 haben sich beide sehr schnelle Zeiten vorgenommen. Das Feld der Einzelläufer haben sie schon überholt. Doch auch der erste Solist lässt nicht lange auf sich warten: Federico Borlenghi aus Italien war bereits im Jahr 2013 als Zweiter auf dem Podium. Die Strapazen der bisherigen 91 Kilometer sieht man nur seinem Gesicht an, die Beine laufen immer noch fast auf Kurs Streckenrekord.
13. August, 14:30 Uhr:
Partystimmung am Verpflegungspunkt Pagel & Friends bei fast 100 Kilometern. „Azzurro, il pomeriggio è troppo azzurro e lungo per me“. Die Stimme von Adriano Celentano aus einem Lautsprecher ist schon von weitem zu hören. Die Mundwinkel des führenden Italieners gehen nach oben. Etwas Heimatgefühl in Kladow. Der Vorsprung ist immer noch komfortabel, fast 30 Minuten liegt er vor dem Berliner Marc Cornelius Jänicke und dem Österreicher Christian Buchebner. Vierter ist nun der Israeli Ariel Rozenfeld. Bei den Frauen hat die Führung gerade gewechselt, Tia Jones aus Australien, die Vorjahrsdritte, führt das Damenfeld kurz nach Krampnitz an.
13. August, 16:45 Uhr:
An vielen Orten wird an diesem Tag der Maueropfer gedacht. Nur wenige Meter vom Verpflegungspunkt 19 in Schönwalde entfernt findet gerade eine Kranzniederlegung statt. Später werden viele Teilnehmer sagen, dass der Lauf an diesem besonderen Datum noch mehr Gedenklauf war als die Jahre zuvor. Kränze an fast jeder Stele unterwegs vermitteln das beklemmende Gefühl, durch den Friedhof der Maueropfer zu laufen.
13. August, 17:30 Uhr:
Ariel Rozenfeld hat sich weiter nach vorne gearbeitet. Beim Grenzturm Nieder Neuendorf hat er Federico Borlenghi überholt und liegt nun auf Rang 1. Auf den Plätzen wird es ebenfalls spannend. Plötzlich mischen mit dem Schweden Ivan Bretan und dem Japaner Minoru Onozuka „neue“ Namen vorne mit…
13. August, 18:00 Uhr:
Die ersten Staffeln werden im Ziel erwartet. Wird es nochmal spannend, gibt es ein Sprintfinish? Nein, Team Laktat3 hat den Vorsprung von der letzten Kontrollstelle ins Ziel gebracht und am Ende mit 11:04 Stunden die Nase vorn, LGM Fast Forward landet mit drei Minuten Rückstand auf dem zweiten Platz. Partystimmung im Stadion.
13. August, 19:00 Uhr:
Kontrastprogramm am VP 23 am Naturschutzturm. Da geht es ruhig zu. Also Zeit für eine kleine Hochrechnung: Der spätere Sieger wird gut 15 Stunden brauchen, eine Stirnlampe wird er nur auf den allerletzten Kilometern benötigen. Das 100Meilen-Fahrradteam hingegen ist wie viele andere Helfer rund um die Uhr im Einsatz und bereitet sich auf die Nachtschicht vor. Die Kombination aus dunklem Wald und Kopfsteinpflaster ist für manche Läufer ein wenig beunruhigend. Da bringen die offiziellen Begleitradler mit ihren starken Helmlampen Licht ins Dunkel und ein Lächeln auf die angespannten Gesichter.
13. August, 21:20 Uhr:
Die Dunkelheit bricht herein, Kugellampen entlang der Laufbahn markieren in leuchtenden Farben den Zieleinlauf. Alle Teilnehmer sind nun – wie aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben – mit Stirnlampen unterwegs. Ob auf halber Strecke bei Sacrow oder schon in Zielnähe wie Ariel Rozenfeld. Und da kommt er, mit seiner Landesflagge und einem breiten Strahlen im Gesicht. Den ganzen Tag lang ist er sein eigenes Rennen gelaufen, hat sich nicht vom hohen Anfangstempo der Spitze anstecken lassen. Nach 15:20 Stunden wird für ihn das Zielband gespannt – Glückwunsch dem schnellsten Mann beim Mauerweglauf 2016!
13. August, 23:03 Uhr:
Die ersten vier Männer sind im Ziel. Auf Platz 2 kommt mit 24 Minuten Rückstand der Schwede Ivan Bretan, auf Platz 3 der Japaner Minoru Onozuka. Der vierte Rang geht an den schnellsten Deutschen, Matthias Vettermann aus der M55 (!). Aber nun, auf Gesamtrang 5, kommt sie schon, die schnellste Frau! Tia Jones aus Australien, Anfang der zweiten Rennhälfte in Führung gegangen, darf nach ihrem dritten Rang im Vorjahr nun als Siegerin jubeln. Nebenbei hat sie die zweitschnellste je von einer Frau auf dem Mauerweg gelaufene Zeit hingelegt. Dass sie ihren 50. Geburtstag schon hinter sich hat und bereits Großmutter ist, sieht man ihr selbst nach 17:03 Laufstunden nicht an.
14. August, 00:30 Uhr:
Es gibt doch einen Podestplatz für Italien – Elena Fabiani hat mit einem gewaltigen Finish noch Rang zwei geholt. Ihre Zeit: 18:29 Stunden. Das Podium komplettiert Sarah Sawyer aus Großbritannien, die ihren Ehemann nach 18:39 Stunden Laufzeit und 161,5 getrennt absolvierten Kilometern auf der finalen halben Stadionrunde wiedergetroffen hat. Den Titel „schnellstes Paar“ haben sie damit auch sicher.
14. August, 05:37 Uhr:
Jetzt geht es um den „Buckle“. Die begehrte Gürtelschnalle gibt es nur für eine Zeit unter 24 Stunden. Wer kann in der Morgendämmerung noch einen Endspurt hinlegen? Einige schaffen es noch, wie Conny und Karl Rohwedder. Stammgäste beim Mauerweglauf. Letztes Jahr hatten sie während des Laufs einen gemeinsamen Termin am Standesamt, der ein wenig zu viel Zeit kostete… 😉 Aber heute feiern sie den ersten Hochzeitstag mit einem gemeinsamen Sub-24-Finish.
14. August, 6:00 Uhr:
Zwischenbilanz nach 24 Stunden. 90 Staffeln sind im Ziel, 21 Einzelläuferinnen und 99 Einzelläufer. Also fast alle Teams und knapp die Hälfte der Solisten, die noch im Rennen sind. Sechs Stunden bleiben noch, um das begehrte Mauerweglauf-Finishershirt im Ziel in Empfang zu nehmen. In diesem Jahr mit einem Motiv des bekannten Mauerkünstlers Thierry Noir. Die Medaille mit dem Konterfei von Karl-Heinz Kube wird später bei der Siegerehrung überreicht.
14. August, 09:48 Uhr:
René Wallesch überquert die Ziellinie. Kay Giese, HaWe Rehers, Klaus Neumann und Stefan Bicher haben schon auf ihn gewartet. Nun ist das Läuferquintett komplett, das bereits vier Mauerweglauf-Finishermedaillen zuhause hat und sich am Nachmittag bei der Ehrung im Ramada-Hotel am Alexanderplatz die fünfte abholen darf.
14. August, 11.56 Uhr:
Warten auf die Letzten. Auch sie werden Sieger sein. Wie viele schaffen es noch unter 30 Stunden? Besenläuferin Beate ist in Sicht, gut erkennbar am neongelb-leuchtenden Shirt des Veranstalter-Vereins LG Mauerweg. Sie begleitet die älteste Dame im Feld. Ursula Dinges, Jahrgang 1940. Was sie alles in Deutschland erlebt hat: 21 Jahre war sie alt, als die Mauer gebaut wurde, fast 50, als sie wieder fiel. Und jetzt, im Alter von 76 Jahren, hat sie das westliche Berlin umrundet. Ganz großen Respekt – und hoffentlich auf ein Wiedersehen am 12./13. August 2017!