Maueropfer

Nach Erkenntnissen der Stiftung Berliner Mauer kamen zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen an der früheren Grenze ums Leben, darunter 100 DDR-Bürger bei Fluchtversuchen. Der Mauerweglauf erinnert an diese Menschen und Schicksale. Aus diesem Grund trägt auch die Finisher-Medaille jedes Jahr das Konterfei eines Maueropfers. Nachfolgend eine Übersicht der bisher beim Mauerweglauf gewürdigten Menschen.

2023 – Erna Kelm

Im Jahr 34 nach dem Mauerfall gedenken wir Erna Kelm, geboren am 21. Juli 1908 in Frankfurt (Oder), ertrunken am 11. Juni 1962 in der Havel am Außenring zwischen Sacrow (Kreis Potsdam-Stadt) und Berlin-Zehlendorf.

In Sacrow (Potsdam) arbeitete sie zuletzt als Heimleiterin.

Ihre Leiche wurde am Morgen des 11. Juni 1962 bei Berlin-Zehlendorf in der Havel treibend entdeckt. Alles deutet darauf hin, dass sie versucht hat, durch die Havel nach West-Berlin zu schwimmen. So trägt sie weitere Unterlagen in einem Plastikbeutel verpackt am Körper und hat unter ihrer Kleidung einen Schwimmgürtel angelegt. Die Ermittlungen der West-Berliner Polizei endeten mit dem Ergebnis, dass Erna Kelm bei einem Fluchtversuch ertrank. Ihr Leichnam wurde auf Antrag der Angehörigen nach Potsdam überstellt. In West-Berlin gab es mehrere Presseberichte über ihren Tod.

Als das Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen aus Anlass des ersten Jahrestages des Mauerbaus eine Broschüre herausgibt, in der es die Unrechtstaten an der Mauer bilanziert, bleibt auch der tödlich verlaufene Fluchtversuch von Erna Kelm nicht unerwähnt. Ihr Name wird fortan in amtlichen Listen der Todesopfer genannt. Auf diese Weise wird die Erinnerung an das Schicksal der 53-Jährigen, die an der Grenze zu West-Berlin zu Tode kam, wachgehalten.

Ein Kontakt zwischen der Familie und der Stiftung Berliner Mauer ergab sich erst im August 2012 bei einer Exkursion mit Schülerinnen und Schülern der Enkelin Frau Anja Kelm in der Gedenkstätte Berliner Mauer, die im »Fenster des Gedenkens« den Namen ihrer Großmutter entdeckt hatte.

(Foto: Erna Kelm, im August 1961, privat)

2022 – Ulrich Steinhauer

Im Jahr 33 nach dem Mauerfall gedenken wir Ulrich Steinhauer. Uns ist durchaus bewusst, dass diese Entscheidung differenziert beurteilt wird.

Da Ulrich Steinhauer zum Zeitpunkt seines Todes den Grundwehrdienst in den Grenztruppen der DDR leistete, war die angemessene Form des Gedenkens an ihn – wie auch an die anderen im Dienst getöteten Grenzsoldaten – Gegenstand von Kontroversen, unzweifelhaft ist aber, dass Ulrich Steinhauer ein Opfer des Kalten Krieges ist.

Ulrich Steinhauer wurde zum achtzehnmonatigen Wehrdienst im November 1979 in das Grenzausbildungsregiment 40 in Oranienburg einberufen. Aus Briefen an seine Familienangehörigen und Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit ist bekannt, dass Ulrich Steinhauer das Ende des Wehrdienstes herbeisehnte und Vorgesetzten bei den Grenztruppen erklärte, dass er nur im äußersten Notfall bereit wäre, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.

Am 4. November 1980 war Ulrich Steinhauer für die Zeit von 13.00 Uhr bis 21.00 Uhr im Abschnitt Staaken-Schönewalde, gegenüber dem West-Berliner Ortsteil Eiskeller im Bezirk Spandau, als Postenführer eingeteilt. An diesem Tag sollte er den Grenzdienst mit Egon B. versehen. Ulrich Steinhauer ahnte nicht, dass sein Kamerad in den Westen flüchten wollte und sich gerade diesen Grenzabschnitt für sein Vorhaben ausgesucht hatte. Kurz nach 16 Uhr beschloss Egon B, sein Fluchtvorhaben in die Tat umzusetzen. Egon B schoss aus kurzer Entfernung fünf Mal auf Ulrich Steinhauer, ein Schuss in den Rücken war tödlich. Er verstarb noch vor dem Eintreffen eines Arztes.

Der Tod Ulrich Steinhauers wurde in der DDR trotz seiner reservierten Haltung gegenüber dem Grenzdienst und gegen den Willen der Angehörigen für ideologische Zwecke instrumentalisiert.

(Foto: Ulrich Steinhauer, Aufnahmedatum unbekannt, privat)

2021 – Dieter Berger

Im 32. Jahr nach dem Mauerfall ehren wir Dieter Berger. Dieter Berger aus Glienicke im Kreis Oranienburg ist 24 Jahre alt, als er im Dezember 1963 nicht weit von seiner Arbeitsstelle entfernt ins Ost-Berliner Grenzgebiet gerät. Weder Archivdokumente noch Zeitzeugenberichte geben endgültig Aufschluss darüber, aus welchem Grund das geschah. Während er Grenztruppen- und Stasi-Akten zufolge versucht haben soll, die Grenzanlagen zu überwinden, vermuten seine Angehörigen, dass er nach Alkoholgenuss orientierungslos umhergeirrt und versehentlich ins Grenzgebiet gelangt sei.

Dieter Berger besucht von 1947 bis 1955 die Schule und absolviert anschließend eine Maurerlehre in einem staatlichen Betrieb in Ost-Berlin. 1962 heiratet er die fünf Jahre jüngere Gerda. Sie beziehen ein kleines Haus mit Garten in Glienicke. Um Politik, so sagt seine Witwe im Rückblick, habe sich ihr motorradbegeisterter Mann nicht gekümmert. Flucht sei zwischen ihnen nie ein Thema gewesen. Auch Familie und Freunde glauben nicht an einen Fluchtversuch.

Der 13. Dezember 1963 ist ein Freitag. Am Morgen fährt Dieter Berger wie gewohnt zur Arbeit nach Berlin-Adlershof. In der Mittagspause soll er sich mit einem Kollegen betrunken haben. Anschließend muss er zu Fuß in den angrenzenden Ortsteil Johannisthal gelaufen sein. Dort wird er von einem Postenpaar dabei beobachtet, wie er sich den Grenzanlagen nähert. Sie gehen davon aus, es mit einem Flüchtling zu tun zu haben. Auf ihre Warnschüsse hin klettert Dieter Berger vom Zaun herunter und hebt, wie sie es verlangen, die Hände. Zeugen beobachten, wie er niedergeschossen wird. Berichte der DDR-Grenztruppen stellen dar, dass sie provoziert wurden. Die Provokation haben die Zeugen nicht gesehen. Dieter Berger erliegt seinen Verletzungen noch auf dem Weg ins Volkspolizei-Krankenhaus.

2019 – Dieter Wohlfahrt

Im 30. Jahr nach dem Mauerfall ehren wir Dieter Wohlfahrt. Nach einem verwehrten Oberschulbesuch in der DDR lernt Dieter in West-Berlin und pendelt zwischen den Sektoren. Nach der Grenzschließung bleibt er in West-Berlin und schließt sich noch während seines Chemiestudiums an der TU-Berlin der studentischen Fluchthilfegruppe um Dieter Thieme und Bodo Köhler an. Er hilft ehemaligen Mitschülern, Verwandten und Bekannten bei der Flucht aus der DDR in den ersten Wochen durch Abwasserkanäle. Sein österreichischer Pass hilft ihm zwischen den Grenzen zu pendeln. Als „Deckelmann“ reist er nach Ost-Berlin und öffnet unauffällig die Deckel der Kanalisation für die Flüchtenden.

Am 09.12.1961 fährt er mit Elke C., Karl-Heinz Albert und einem weiteren Freund nach Staaken, um der Mutter von Elke C. die Flucht zu ermöglichen. Dieter Wohlfahrt schneidet mit einem Bolzenschneider den Grenzzaun auf, als von der östlichen Seite Frau C. auf sie zukommt und nach ihrer Tochter ruft. Kurz darauf wird von den DDR-Grenzposten auch schon geschossen. Karl-Heinz Albert gelingt es wieder in den Westen zu kommen. Dieter Wohlfahrt bricht zusammen und bleibt an der Grenze regungslos liegen. Rettungsversuche der West-Berliner Polizei und britischer Militärpolizei werden von den DDR-Grenzposten mit Waffengewalt unterbunden. Von östlicher Seite bekommt er keine Hilfe. Über eine Stunde bleibt er regungslos an der Grenze liegen, ohne noch einmal ein Lebenszeichen von sich zu geben. Dann wird er abtransportiert.

2018 – Jörg Hartmann

 

Jörg Hartmann war das jüngste Opfer, das an der Berliner Mauer sein Leben verlor. Jörg wurde nur 10 Jahre alt. Morgen vor genau 52 Jahren, am 14.März 1966 hielt sich Jörg gemeinsam mit seinem 13-Jährigen Freund Lothar Schleusener nach Einbruch der Dunkelheit im Grenzgebiet im Berliner Stadtbezirk Treptow auf. Das wurde den beiden Jungen zum Verhängnis. Ein Grenzsoldat sah ihre Schatten und eröffnete das Feuer. Beide Jungen verloren ihr Leben.
Zwei Wochen nach Jörgs Tod erhält seine Großmutter die offizielle Nachricht vom Generalstaatsanwalt Ost-Berlins, dass Jörg ertrunken sei. Seine Leiche sei am 17.März aus einem See in Köpenick geborgen worden. Viele Jahre wurde der Tod von Jörg Hartmann und seinem Freund vom DDR-Regime verschleiert. Erst nach Öffnung der Mauer wird aufgedeckt, dass Jörg und Lothar Opfer des ostdeutschen Grenzsystems wurden.

 

2017 – Dorit Schmiel

Dorit Schmiel, von Freunden auch „Dorle“ genannt, wird im Kriegsjahr 1941 in Berlin geboren. Sie wächst im Ost-Berliner Stadtbezirk Pankow auf, lernt den Beruf der Schneiderin und arbeitet in einem volkseigenen Betrieb. Mit dem Bau der Mauer 1961 wachsen Unmut und Unzufriedenheit, ein Jahr später beschließt sie gemeinsam mit Freunden, die DDR zu verlassen. Meldungen von geglückten Fluchtaktionen – unter anderem die eines Cousins – bestärken Dorit in der Absicht, ebenfalls die Flucht zu wagen. In der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1962 ist es soweit: Im Pankower Ortsteil Rosenthal nähern sich die fünf Freunde der mit Stacheldraht gesicherten Grenze, auf der anderen Seite liegt der West-Berliner Bezirk Reinickendorf. Mit einer Drahtschere schneiden sie zunächst ein Loch in den ersten Zaun, kriechen danach durch Matsch und Schnee gen Westen. Kurz vor Erreichen der beiden letzten Zaunreihen beginnt das Drama, die Flüchtenden werden von Grenzposten entdeckt. Ohne Vorwarnung wird das Feuer eröffnet. Dorit wird dabei von einer Kugel in den Bauch getroffen, auch einer ihrer Freunde wird verletzt. Dorit blutet stark, weint vor Schmerzen. Im Volkspolizei-Krankenhaus in Berlin-Mitte, in das sie gebracht wird, erliegt Dorit ihren schweren inneren Blutungen. Die anderen Flüchtlinge werden von einem DDR-Gericht zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt. Die an der Tat beteiligten Grenzsoldaten werden nach der „Wende“ zu Freiheitsstrafen verurteilt, diese jedoch zur Bewährung ausgesetzt.

 

2016 – Karl-Heinz Kube

Karl-Heinz Kube wurde am 10. April 1949 in Ruhlsdorf bei Berlin geboren. Zusammen mit seinem 18-jährigen Freund Detlev schmiedet Karl-Heinz Fluchtpläne. Beide wollen in Kleinmachnow einen Weg in den Westen suchen. Am 16. Dezember 1966 ist es soweit: Ausgerüstet mit Seitenschneidern überwinden sie zunächst erfolgreich die ersten Sperranlagen. Am letzten Zaun werden Karl-Heinz und Detlev von einer Streife der Grenzsoldaten entdeckt. Beide retten sich zunächst in einen Graben, wo sie jedoch in das Schussfeld einer zweiten Streife geraten. Während Detlev unverletzt bleibt und festgenommen wird, treffen Karl-Heinz Kugeln in die Brust und in den Kopf. Die Todesschützen werden kurz nach der Tat mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst“ beziehungsweise mit dem „Leistungsabzeichen der Grenztruppen“ dekoriert.

 

2015 – Marienetta Jirkowsky

Der Mauerweglauf 2015 erinnerte an Marienetta Jirkowsky. „Micky“ wurde am 22. November 1980 bei einem Fluchtversuch zwischen Hohen Neuendorf und Berlin-Frohnau von Gewehrkugeln der DDR-Grenztruppen getroffen. Sie erlag wenig später im Krankenhaus ihren schweren Schussverletzungen. Marienetta wurde 18 Jahre alt. Vom Tod seiner Tochter erfuhr Marienettas Vater erst zwei Tage nach den Schüssen. Der Familie wurde nicht gestattet, eine Todesanzeige zu veröffentlichen. Außerdem wurde die Beerdigung fast komplett von Mitarbeitern der DDR-Staatssicherheit abgeschirmt.

 

2014 – Peter Fechter

Die Bilder seines Schicksals gingen um die Welt. Am 17. August 1962 wurde Peter Fechter in der Nähe des Checkpoint Charlie von insgesamt 35 Kugeln getroffen. Der schwerverletzte Fechter blieb im Grenzstreifen liegen, niemand wollte oder konnte ihm helfen. Er verblutete und starb schließlich im Krankenhaus. An jener Stelle in der Zimmerstraße, an der Peter Fechter erschossen wurde, legten die Teilnehmer des Mauerweglaufs 2014 rote Rosen nieder

 

 

2013 – Günter Litfin

Er war der erste DDR-Bürger, der bei einem Fluchtversuch durch Schüsse getötet wurde. Ein ehemaliger Grenzturm beherbergt heute eine Gedenkstätte, die an sein Leben und Schicksal erinnert. Unweit des Turms, in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofs, wurde Günter Litfin am 24. August 1961 im Alter von nur 24 Jahren erschossen.

 

2011 – Chris Gueffroy

Chris Gueffroy war das letzte Opfer, das durch den Einsatz von Schusswaffen an der Mauer ums Leben kam. Das war in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989. Von einem befreundeten Grenzsoldaten hatte Chris erfahren, dass der Schießbefehl aufgehoben sei, was sich jedoch auf tragische Weise als falsch herausstellte. Bei seinem Fluchtversuch am Britzer Verbindungskanal wurde er von zwei Kugeln getroffen, eine davon traf sein Herz. Chris starb noch im Grenzstreifen. Seine Mutter Karin Gueffroy überreichte den Finishern beim ersten Mauerweglauf die Medaille, die das Porträt ihre Sohnes trug.


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